Presse und Medien
Frankfurter Allgemeine – 16. November 1989
one-man show Museum Folkwang, Essen
Zeichenopfer
Gottfried Helnwein in Essen.
Durch die Ausstellung im Essener Museum Folkwang mit über fünfzig Pastellen, Aquarellen, und Zeichnungen, die zusammen eine konzentrierte Werksübersicht seit 1969 ergeben, führt jener, blutrote, nicht zuletzt austriatypische Faden
Seine Kinder waren immer verletzt, mißraten, dannoch voll trotziger Phantasie. Anfang der siebziger Jahre fertigte der 1948 in Wien geborene Gottfried Helnwein die lieben Kleinen in einer porentief detailbesessenen Mischtechnik aus Farbstift, und Aquarell: Rosa Puffärmel, aus denen bandagierte Hände zum Vorschein kommen, Pupillen, die ebenso puttenhaft kullern wie gespenstisch verdreht sind. Oft war die Lippenpartie eingeschnitten, narbig vernäht und lege einen Teil des Gebisses frei. Immer traf man hier auf einen jungen Verwandten jenes von dem Politbarden Franz-Josef Degenhardt erdachten Hasenscharten-Kindes, "das biß, wenn's bitte sagen sollt". Auch die Federzeichnungen, die in der Nachfolge des dunklen Phantasten Alfred Kubin zwischen 1974 und 1979 entstanden, waren deutlich geprägt durch das Thema "Kind", ebenso wie die ganz frühen Wiener Straßenaktionen, an denen Kinder mit Kopfbandagen beteiligt waren ("Aktion Sorgenkind", 1972).
Durch die Ausstellung im Essener Museum Folkwang mit über fünfzig Pastellen, Aquarellen, und Zeichnungen, die zusammen eine konzentrierte Werksübersicht seit 1969 ergeben, führt jener, blutrote, nicht zuletzt austriatypische Faden: Augenblicke höchster menschlicher Not, die in seelentiefen, surrealistischen Bildwelten meist fotorealistisch plakatiert werden. Gottfried Helnwein bezeichnet sich als Kind des Medienzeitalters und ergänzt daher seine Themen durch Comic- und Fernsehwesen. Der kommerzielle Erfolg blieb nicht aus. Die Kinder von Marx und Coca-Cola nahmen das phantastische Gemisch aus Komik/Comic und Schrecken begierig auf. Von der Rockmusik und Walt Disney habe er mehr gelernt als von Mozart und Leonardo da Vinci, wie dieser Apokalyptiker der Populärkultur es einmal ausdrückte. Nur allzu konsequent erscheint es, daß Helnwein auch die trivialen Mythen und Idole des Elektronenzeitalters hyperrealistisch zu einem seelenlosen Kommerz-Kosmos aufgebläht hat: von Superman bis Mick Jagger, von James Dean bis Peter Alexander.
Daß die Dokumentarfotografie, die Bilderflut der Massenmedien, nach wie vor die große Inspirationsquelle liefert, aus der Helnwein schöpft, beweisen die aktuellen Arbeiten des Künstlers, Schwerpunkt der Essener Ausstellung. Die Fotografie vermittelt ihm den stärksten Eindruck von Wirlklichkeit, hier setzt der künstlerische Dialog ein. Was in den letzten drei Jahren meist in Öl und Pastell entstanden ist, zeight eine verstärkt malerische, nicht selten dunkel-expressive Handschrift, hingegen bleiben die Intention und der gestalterische Einstieg unverändert: Polizeifotos von mißhandelten Kindern, Drogenleichen aus der New Yorker Bronx oder etwa die heftige grau-blaue Verarbeitung einer Fotografie des amerikanischen Sensations-reporters Weegee, der in den dreißiger und vierziger Jahren die gewalttätigen Schattenseiten New Yorks mit der Kamera abblitzte.
Unter dem Titel "Verbrannter Engel" leuchtet das gespenstisch weißgrau beleuchtete Profil eines angedeuteten liegenden Schädels diffus bor blauschwarzem Hintergrund. Als Fotografen fungierten in diesem Fall die Soldaten der Roten Armee, als sie 1945 in Berlin vor dem Führer-Hauptquartier die verkohlte Leiche des NS-Propagandisten Goebbels ablichteten. In Helnweins Bild wird der konkrete Geschichtsbezug zur Chiffre für eine dämonische Bedrohung des Menschen durch sich selbst, zum Opfer-Henker-Symbol. Mit "Batman stirbt" vergißt Helnwein nicht, dem momentan äußerst erfolgreich auf der Kinoleinwand agierenden Flattermann abgründig zu huldigen.
Ein Zyklus von Hochformaten widmet sich dem 1948 verstorbenen Schauspieler und Dramatiker Antonin Artraud, der den Surrealismus in Frankreich mit höchster Intensität aud die Bühne bringen wollte und sein letztes Lebensjahrzehnt in einer Nerven-Heilanstalt verbrachte. Zusammen mit dem Choreographen Johann Kresnik und dem DDR-Dramatiker Heiner Müller, der Gottfried Helnweins Bilder als inspirative Grundlage für ein Artaud-Stück aufnehmen möchte, entsteht derzeit ein Artaud-Projekt. In "Artaud als Marat", eine Arbeit, die sich wie die übrigen Artaud-Bilder an dokumentarischem Fotomaterial orientiert, erreicht Helnwein eine, wenn auch seitenverkehrte, Korrespondenz mit der bekannten Version des Jacques Louis David. Das insgesamt in rosa Pastelltönen gehaltene Dichter-Portrait "Antonin Artaud" gerät Gottfried Helnwein zur düsteren Comic-Persiflage: Artaud erbricht eine unförmige, inhaltslose blauschwarze Sprechblase.
Bis zum 3. Dezember in Museum Folkwang, Essen; der Katalog kostet 36 Mark. Die Ausstellung wird im kommenden Jahn im Kunstverein Ludwigsburg und in der Kunsthalle Bremen gezeigt.