Gottfried Helnwein Info

Presse und Medien

Frankfurter Rundschau – 1. Dezember 2001

Marlene Dietrich

"Sogar Marlenes Stimme klang einsam"

von Roland Mischke

Am Ende ihres Lebens schloss sich Marlene Dietrich von der Welt aus. Zu den sieben Freunden, die sie in ihrer Pariser Wohnung besuchen durften, gehörten der Maler Gottfried Helnwein und seine Frau Renate. Sie erzählen von ihrer Freundschaft zu der Diva, die am 27. Dezember 100 Jahre alt geworden wäre.

Zehn Tage vor ihrem Tod am 6. Mai 1992 rief sie an. Ihre Stimme war anders als zuvor, schleppend, ohne jede Vitalität. Sie konnte nicht mehr richtig artikulieren, hatte wohl einen Schlaganfall erlitten. Aber sie gab nur zu, unpässlich zu sein. Man konnte nicht alles verstehen, weil sie zeitweise lallte. Das Gespräch dauerte vielleicht eine Stunde, und plötzlich wurde klar, dass da jemand Abschied nimmt. Wir haben dann versucht, einige entscheidende Informationen zu erhalten. Wer ist bei Ihnen? "Niemand", sagte sie. Kommt Ihre Tochter? Darauf vermied Marlene eine Antwort, es war eine Weile Schweigen in der Leitung. In diesem Augenblick begriffen wir das Ausmaß der Enttäuschung über eine unerwiderte Liebe. Die Tochter kam auch erst zwei Tage nach dem Tod der Mutter nach Paris. Immerhin soll Marlenes Enkel in der Todesstunde bei ihr gewesen sein. Weil sie auf keinen Fall ins Krankenhaus, kein Pflegefall und nicht an den medizinischen Maschinenpark ausgeliefert sein wollte, boten wir ihr an, nach Paris zu kommen. Doch sie ging nicht darauf ein.

Sie wollte bis zum Schluss die seltsame Schönheit bleiben, zu der sie sich zeitlebens stilisierte, wollte als Kunstwerk respektiert werden. Sie war nicht nur eine Frau, sie war das Bild der Frau. Eine mythische Figur mit unirdischem Eros, eine Ikone, eine Göttin. Dass wir sie respektiert haben, hat uns Marlene so nahe gebracht. Sie hat gespürt, dass wir fasziniert waren von ihrem Mythos. Es gab da auch das Verständnis auf künstlerischer Ebene.

Wenn wir bei ihr waren, haben wir sie kein einziges Mal gesehen. Obwohl wir nur ein paar Meter von ihr entfernt im Wohnzimmer saßen, während sie in ihrem Schlafzimmer im Bett residierte. Diese Nähe, ohne einander in die Augen zu schauen, hat uns ein fantastisches Verhältnis beschert. Wir konnten über alles sprechen, Marlene war sehr interessiert an unseren Lebensumständen und den Kindern. Sie wollte Fotos von der ganzen Familie, schrieb ständig Briefe. Einmal hatte sie ein Foto verlegt, fand es nicht wieder - sie ließ nicht locker, bis wir es noch mal schickten.

Nachdem Marlene sich zurückgezogen hatte, gelang es niemandem mehr, an sie heranzukommen. Auch wer wusste, wo sie wohnte - in der Avenue Montaigne 12, nahe den Champs-Elysées, im selben herrschaftlichen Haus mit Soraya, der Witwe des persischen Schahs -, konnte sie nicht erreichen. Der Portier ließ niemanden durch und sagte hartnäckig: "Madame Dietrich kenne ich nicht." Erst wenn man ihm einen Brief von ihr zeigte, konnte er sich plötzlich an Madame erinnern und gewährte Zutritt in ihre weiträumige Wohnung. Nur einem gelang es, sie zu Gesicht zu bekommen, dem Schauspieler Maximilian Schell. Der hatte Schlag bei den Frauen. Die Marlene war wohl ein bisschen verliebt. Dieser Bonus brachte ihn 1982 auf die Idee, einen Dokumentarfilm mit ihr zu machen. Und sie ließ sich darauf ein. In diesem Kinofilm, Marlene, hört man sie reden, lachen und schimpfen, aber bekommt sie nie zu sehen. Die Dreharbeiten fanden zunächst in ihrem Wohnzimmer statt. Später bestand sie darauf, dass das Zimmer nachgebaut wurde, sie wollte nicht die Horde der Filmleute in ihrer Wohnung haben.

(Maximilian Schell bat Gottfried Helnwein, das Plakat für seinen Film zu malen. Helnwein ließ sich von alten Fotos inspirieren. Das Porträt gefiel Marlene Dietrich so sehr, dass sie Helnwein einen Brief schrieb: Noch nie sei sie besser gemalt worden. Sie fragte nach Drucken des Originals. Helnwein fertigte eine Lithographie an und bat sie, die limitierte Auflage von 280 Stück zu signieren. Dazu erklärte sie sich bereit, d. Red.)

Anfangs telefonierten wir öfters mit ihr. Marlene war wie in Schells Film: unberechenbar, mal abweisend, mal launisch, dann wieder ganz geschäftlich im Tonfall, dabei wechselte sie die Sprache, ging vom Französischen ins Englische über. Aber sie blieb unnahbar. Das änderte sich, als wir das erste Mal zu ihr durften. Ihre Sekretärin, Madame Davis, die Frau eines französischen Lyrikers, empfing uns an der Tür und führte uns durch die Räume. Alle Zimmer waren abgedunkelt, wie unbewohnt.

Dunkle Möbel, schwere Vorhänge, eine Couch mit einer Plastikplane abgedeckt. Überall kostbare Möbel, die einen unbenutzten Eindruck machten. Bücherregale, deren Bretter sich durchbogen, überladen mit Büchern. An einer Wand des Wohnzimmers die Bilder ihrer Ruhmesgalerie. Marlene mit Hemingway, de Gaulle, Norman Mailer und allen anderen, die sie gekannt hatte.

Im Wohnzimmer stand ein Flügel, darunter lauter Kartons und Kisten mit Erinnerungsstücken, gestapelt, alle ordentlich beschriftet. Berge von Zeitungen und Briefen. Die Wohnung sah verlassen aus, als habe Marlene eine große Reise angetreten und vorher alles geordnet.

Plötzlich ertönte aus dem Schlafzimmer eine Trillerpfeife. Madame Davis ging hinüber, um die Anweisungen von Marlene entgegenzunehmen. Wir hörten sie sprechen, diese feierliche, etwas herrische und dramatische Stimme. Wir hätten mit ihr durch die offene Tür reden können, aber das Ritual im Hause Dietrich war, dass die Konversation mittels Botin geführt wurde. Manchmal, wenn ihr die Prozedur zu umständlich vorkam, pfiff Marlene ungeduldig. Sie schrieb auch ständig Zettel, die uns dann ausgehändigt wurden. Bis nach einer Weile das Gespräch per Haustelefon fortgesetzt wurde.

Das war der Punkt, an dem sich alles um 180 Grad drehte. Marlene sagte plötzlich: "Es gibt niemanden mehr. Meine Freunde und Weggefährten sind tot. Die Leute haben nur noch ein kommerzielles Interesse an mir, sogar meine Tochter." Sie sprach jetzt deutsch, in diesem Moment waren wir zu ihren Vertrauten geworden. Als wenige Tage vor ihrem Tod noch einmal ihr Biograph David Bret mit ihr telefonierte, nannte sie ihm die sieben Namen ihrer engsten Freunde. Wir gehörten zu diesen Sacred Seven.

Als es allerdings ans Signieren der Lithographien ging, wurde es kritisch. Marlene wollte die Lithographien partout mit Filzstift abzeichnen - in Goldfarbe! Sie ließ sich nicht davon abbringen, schimpfte, dass wir sie nötigten, den Bleistift zu nehmen. Wir hörten sie sagen: "Das kann ja jeder ausradieren." Sie wollte auch nicht glauben, dass die Farbe des Filzstifts nach einiger Zeit ausbleicht.

Erst, als wir ihr erklärt hatten, dass auch Picasso und Dalí zum Signieren den Bleistift benutzt hatten, ließ sie sich überzeugen. Alle 280 Lithographien hat sie dann mit Bleistift unterzeichnet. Das war am 20. Dezember 1989. Danach gab sie uns ein Papier mit: "I declare herewith that the litograph of my portrait by Gottfried Helnwein Edition 280 has been signed by me personally. Marlene Dietrich." Das Wort persönlich hat sie unterstrichen. Fortan umarmte sie uns telefonisch. Das Schroffe, Sperrige war wie weggeblasen.

Sie wollte nun Privates wissen, da war sie hartnäckig. Wir mussten ihr genau beschreiben, wie wir wohnten. Manche Gespräche waren sehr vertraut, sehr eng. Marlene war emotional und fürsorglich, wenn sie jemanden in ihr Herz geschlossen hatte. Sie war eine dramatische Person, duldete nichts Lauwarmes. Lieber zeigte sie einem die kalte Schulter. Das Verrückte: Wir wussten gar nicht, dass wir ihre einzigen jüngeren Freunde waren, ihre einzige Schnittstelle zur nachfolgenden Generation. Und was die anderen Sacred Seven anbelangt, wissen wir nur, dass sie sich noch stark mit ihrem Texter Max Colpet in München verbunden fühlte. Er ist inzwischen auch gestorben. Um ehrlich zu sein, hatte sie mit ihm wohl auch nur gelegentliche Kontakte gehabt.

Am Ende gab es ja auch ihre Helferin, Madame Davis, nicht mehr. Marlene musste sie entlassen, weil sie sie nicht mehr bezahlen konnte. Uns fiel das auf, weil sie auf einmal immer selbst das Telefon abnahm und sich dabei verstellte. Sie hat die Haushälterin imitiert, denn die Situation war ihr natürlich peinlich. Sie meldete sich immer erst auf Französisch und sagte: "Madame ist nicht da."

Als wir sie direkt auf ihre Umstände ansprachen, behauptete sie erst, Madame Davis sei im Urlaub oder verreist. Sie tippte dann auch ihre Briefe selbst auf der Schreibmaschine. Auch Päckchen, die wir von ihr erhielten, waren von ihr selbst beschriftet worden, mit ihrer steilen, stolzen Handschrift, die bis zuletzt nicht zittrig war. Und dann alle die Zettel, die Zeitungsränder, die sie vollgekrakelt hatte - immer mit dieser ungenierten Kinderhandschrift. Einmal erklärte Marlene, sie habe Madame Davis weggeschickt, weil sie ihr zu teuer sei.

Wir haben die Dimension ihrer Einsamkeit geahnt. Selbst wenn sie witzig war, steckte da noch Trauer drin. Manchmal klang sogar ihre Stimme einsam. Und wenn sie bei uns anrief und der Anrufbeantworter ansprang, reagierte sie immer etwas grimmig. "Hier spricht Marlene Dietrich! Frau Helnwein, wo sind Sie denn... Ich muss Sie sprechen, Kindchen. Dringend. Stellen Sie doch Ihren Antworter lauter." Das war bei ihr eine stehende Redewendung: Antworter. Oft war sie weinerlich. "Kindchen, wo sind Sie? Meine Liebste, Küsse, Küsse..." Es schien so, dass wir am Ende Marlenes letzte Verbindung zur Außenwelt waren. Am Anfang hatte sie ja noch ab und zu ihre Wohnung verlassen. Einmal erzählte sie ganz stolz: "Heute war ich in Versailles." Sie mietete sich einen Fahrer, tarnte sich mit großer Sonnenbrille, Kopftüchern und einem weiten Mantel. Als sie in den letzten Jahren gebrechlicher wurde und die Jagd der Paparazzi begonnen hatte, ging sie nicht mehr hinaus.

Also mussten wir ihr viel erzählen, vom Mauerfall 1989 zum Beispiel alles, was wir wussten, jede Einzelheit. Sie verstand sich bis zuletzt als normale, freche Berliner Göre. Und dann bekam sie die ersten Briefe aus Ostdeutschland, da war sie glücklich. Sie empfand das wohl als so etwas wie eine Absolution. Dass ihr nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland so viel Hass entgegen geschlagen war, hat sie tief verletzt. Sie hat nicht verstanden, dass man sie als Verräterin beschimpfte. "Ich verstehe nichts von Politik", sagte sie. "Aber man kann doch Menschen nicht so behandeln wie die Nazis die Juden." Auch dass Deutsche ihr übel nahmen, dass sie während des Krieges Goebbels Angebot, sich mit ihr zu versöhnen, wenn sie die Seiten wechseln würde, abgelehnt hat, hat sie bis zuletzt nicht verwunden.

Als sie während ihrer ersten Deutschland-Tournee einmal in einen Orchestergraben stürzte, meinte der Veranstalter, das sei eine gute Gelegenheit, die Tournee abzubrechen, ohne das Gesicht zu verlieren. Das hat sie empört, sie zog die Tournee dann unter Schmerzen bis zum Ende durch.

Einige Briefschreiber nach dem Mauerfall bezogen sich auf ihren Ausspruch "Ich hab noch einen Koffer in Berlin". Einer bot ihr tatsächlich an, diesen Koffer zu suchen. Darüber hat sie herzlich gelacht. Die Wiedervereinigung hat Marlene richtig gut getan.

Finanziell ging es ihr nicht gut. Sie war in einer Zeit zum Star geworden, als das meiste Geld in Hollywood Studiobosse verdienten, nicht Stars. Marlene ist regelrecht ausgebeutet worden. An die astronomischen Gagen, die heute eine Julia Roberts verdient, war in ihrer Zeit überhaupt nicht zu denken. Sie brauchte Geld, ständig, möglichst große Summen. Doch sie hat das nicht zugegeben, nur kokettiert. "Wissen Sie mir nicht ein kleines Geschäftchen?", fragte sie einmal, war aber nicht bereit, für Geld ihre Würde herzugeben. Ein japanischer TV-Sender bot ihr drei Millionen US-Dollar für drei Minuten vor der Kamera. Sie lehnte ab.

Als wir ihr anboten, ihr einige originale Filmkleider aus ihren Kisten abzukaufen, hat sie sofort eingewilligt. Wir arbeiteten damals an der Ausstellung "Mythen des 20. Jahrhunderts" und bekamen das grüne Kostüm mit Hut und Stiefeln, das sie 1978 in ihrem letzten Hollywood-Film Schöner Gigolo, armer Gigolo trug, und das Kleid aus ihrem ersten Hollywood-Film Monte Carlo Story von 1930, noch in der originalen Chanel-Verpackung, von ihr beschriftet. Mit Strass besetzt, in Kindergröße, sie war ja extrem dünn, dazu den Glittermantel. Es war eine beträchtliche Summe. Wir wussten nicht, dass sie den Scheck sofort an ihre Tochter Maria Riva schickte. Sie hat sie zeitlebens unterstützt, auch deren kranken Mann. Bis zuletzt hat sie an ihre Tochter gedacht. "Ich muss ihr etwas hinterlassen", hat sie immer gesagt. Die typische Pflichterfüllung einer preußischen Offizierstochter.

Dabei hat ihre Tochter zu Lebzeiten von Marlene eine so genannte Enthüllungsbiographie geschrieben, Meine Mutter Marlene. Darin schrieb sie, ihre Mutter sei lesbisch gewesen und habe sie als Kind vernachlässigt. Das Buch erschien pünktlich zum Begräbnis von Marlene. Eine scheußliche Sache. Und deutsche Zeitschriften haben sich nicht entblödet, daraus ganze Kapitel abzudrucken. Einige Wochen nach Marlenes Tod erhielten wir vom Anwalt Maria Rivas ein Schreiben, dass wir, wenn wir irgend etwas über Marlene zu publizieren beabsichtigten, uns immer erst an ihn zu wenden hätten. Alle Rechte lägen bei der Tochter.

Schon zu Marlenes Lebzeiten tauchten eines Tages in einer Illustrierten Fotos von ihrer Wohnung auf, verwackelt, mit irgendeiner Schmierkamera gemacht. Marlene hat sich wahnsinnig darüber aufgeregt und vermutet, dass ihr ehemaliger spanischer Sekretär die Fotos heimlich gemacht habe. Ich habe daraufhin recherchiert und von Journalisten nachdrücklich bestätigt bekommen, dass ihre Tochter die Fotos geknipst, an die Redaktionen verscherbelt und behauptet hat, das Honorar ginge an ihre Mutter. Ihr Biograph David Bret hatte den Eindruck, dass es von da an mit Marlene bergab ging.

Sie wurde ja immer gejagt, war ständig auf der Flucht in Verteidigung ihres Gesichts. Deshalb waren die Vorhänge in ihrer Wohnung stets zugezogen. Sie konnte nicht mehr die Fenster öffnen, damit das Licht hereinflutet. Einmal hatten Paparazzi es geschafft, im Hinterhof ihrer Wohnung eine Hebebühne zu installieren, von der aus sie in ihre Wohnung hinein fotografieren wollten. Das wurde noch rechtzeitig entdeckt. Ich verstehe diese Sucht nicht, einen alten Körper sehen zu wollen, eine greise Diva abzubilden.

Einmal kam ihr Concierge mit einem Schlüssel in die Wohnung. Ein "fescher junger Mann", wie Marlene sagte, an dem sie Wohlgefallen fand. Das war ihre Schwäche, dass sie zwar extrem misstrauisch, aber auch zu gutmütig war. Bei dem Concierge hat ihr Alarmsystem nicht funktioniert. Er ist eingedrungen, stand plötzlich vor ihr im Schlafzimmer und hat sie mit Blitzlicht fotografiert. Dann verschwand er ohne ein Wort. Marlene war zu Tode erschrocken. Für horrende Summen hat er das Bild der Bunten angeboten. Es muss grauenvoll ausgesehen haben, wie Marlene in die Kamera schaut. Es ist dann etwas Nobles geschehen: Die Illustrierte hatte das Foto gekauft, veröffentlichte es aber nicht, sondern schickte es an Marlene. Sie war menschlich sehr enttäuscht, fühlte sich von diesem Concierge erniedrigt. Eine andere Zeitschrift bekam ebenfalls ein Foto angeboten, auf dem eine alte Frau im Rollstuhl zu sehen war. Die Redakteure baten uns, zu prüfen, ob es echt sei. Wir sprachen mit Marlene darüber, ihre Reaktion war merkwürdigerweise kokett, da kam voll die Berliner Schnauze durch: "Finden Sie doch mal raus, wie ich da aussehe. Bin ich im Schlafzimmer? Sitze ich im Sessel? Oder bin ich nackt?"

Man hat mit diesen Attacken ihre künstlerische Leistung zerstören wollen. Ihr Lebenswerk, ihr Unsterblichkeitsmythos war ihr Gesicht. Es war ihre wichtigste Aussage, ihr Kapital. Wer Marlene kannte, weiß, dass sie immer auf der Bühne stand, dass es immer Kunst war, wenn sie auftrat. Egal, wo und wie. Sie hat sich immer aufs Sorgfältigste inszeniert, eine Perfektionistin. Als sie dann beschloss, den Vorhang fallen zu lassen, wollte die Öffentlichkeit das nicht akzeptieren. Ein Star darf sich nicht entziehen. Viele Stars wollen ein Bild von sich hinterlassen, das sich dann zum Mythos verklärt. Und den wenigsten gelingt das. Nehmen wir Madonna. Eine drahtige Person, die sich in ihre Karriere verbeißt und alles niederwalzt, was sich ihr in den Weg stellt. Da fallen einem doch nur unbarmherziges Training, Schweiß und Muskeln ein. Madonna ist fleißig, ja! Den Mythos Madonna wird es aber nicht geben.

Marlene aber wusste, dass sie als Star dieses Übermenschliche hatte. Sie kreierte zum Beispiel ihren eigenen Modestil, war die erste, die mit dem Symbol der Männlichkeit spielte, der Hose, die mit Frack und Zylinder posierte. Sie hatte dieses Androgyne ganz natürlich. In Morocco küsst sie ja auch eine Frau, das hatte es in der Filmgeschichte noch nie gegeben und war ein Skandal.

Ob sie bisexuell war, wie viele behaupten, wissen wir nicht. Sie hatte vor allem männliche Verehrer, während Frauen sich oft bei ihr schwer taten. Wir haben selbst gehört, wie Billy Wilder, William S. Burroughs und Elton John von ihr schwärmten. Sie liebte in jüngeren Jahren Männer wie Frauen, fühlte sich zu Remarque ebenso hingezogen wie zu Edith Piaf. Wir haben gemerkt, dass sie ein Faible für schöne, interessante Männer hatte, da wurde ihre Stimme schmusig. Doch Marlene hatte eigentlich ein kühles, distanziertes Verhältnis zu ihrem Körper, sie betrachtete ihn wie eine Skulptur. Auch wie ein Werkzeug: Dass ihre langen Beine ständig betont wurden, hat sie amüsiert. Sie fand aber alles in Ordnung, was der Mythenbildung diente. Dennoch ist ihr Mythos rational nicht zu erklären.

Greta Garbo zum Beispiel, die Göttliche, hat nie solch einen Mythos erreicht. Als die Garbo starb, rief Marlene an und prustete: "Haben Sie gelesen, was die alle schreiben? Die nächste wird die Dietrich sein." Dann hat sie schallend gelacht. Konnte sich aber nicht verkneifen, anzumerken: "Die Zeitungen schreiben nicht, woran die Garbo starb. An Urinvergiftung! Das passt nicht zur Göttlichen."

Manchmal war Marlene von so einem Trotz erfüllt, als wäre sie nie erwachsen geworden. Sie war schrill wie ein Kind und kauzig zugleich. Sie war immer professionell, das hatte sie in Hollywood gelernt, aber auch verspielt und spinnert. Sie hat Heinrich Heine aufgesagt und danach über irgendetwas hämisch gelacht. Als wir sie auf den Schriftsteller Peter Handke aufmerksam machten, begann sie ihn zu lesen, rief dann bei uns an und erklärte: "Das ist ja unmöglich, wie der schreibt!" Doch sie fand seine Person interessant, seinen Mut zur Querköpfigkeit. Marlene hatte übrigens ein außerordentliches Interesse an Literatur, sie las in ihren letzten Jahren ständig. Sie liebte intellektuelle Qualität und erkannte sie sofort. Sie soll ja auch an vielen Drehbüchern mitgearbeitet haben.

Sie konnte aber auch sehr kratzbürstig sein. Als sie einmal etwas über den Reichtum der Liz Taylor gelesen hatte, schrieb sie spontan auf einen Zettel: "Schluck doch deine ganzen Diamanten und erstick daran!" Auch gegenüber Billy Wilders Ehefrau hatte sie Aversionen. Marlene soll eines Tages unangemeldet bei Wilder aufgetaucht sein und einen selbstgekochten Eintopf mitgebracht haben. Dann holte sie zwei Gedecke aus der Küche und deckte nur für sich und Billy auf, obwohl seine Ehefrau anwesend war. Das hat uns Billy Wilder selbst erzählt. Und noch mehr: Als er in den 90er Jahren in New York Teile seiner Kunstsammlung bei Christies versteigerte, verdiente er Millionen. Marlene las das und war völlig aus dem Häuschen: "Was macht der Billy mit so viel Geld? Ich muss ihn anrufen, ich muss wissen, was er mit all dem Geld macht." Sie hat ihn dann tatsächlich nach Jahrzehnten der Funkstille angerufen, Billy Wilder hat uns das bestätigt. Er sagte, sie habe gesprochen, als sei in der Zwischenzeit nichts passiert.

Was sie sich im Alter noch an hemmungsloser Kindlichkeit leistete, haben wir auch gemerkt, als wir in ihrer Wohnung im Nebenraum zuhörten, wie sie für Udo Lindenbergs Lied Hermine einen Sprechtext aufsagte. Udo hatte uns um Vermittlung gebeten. Er wollte, dass Marlene singt, aber das wollte sie nicht. Sie ließ sich von Madame Davis das Tonbandgerät präparieren und legte los. Erst plapperte sie wie ein Kind, dann fing sie zu kichern an und las den Text noch einige Male anders. Sie war völlig unbefangen und lieferte statt einer Lesung des Textes gleich eine Reihe von völlig unterschiedlichen Variationen. Dadurch zeigte sich ihre Professionalität. Das hat sich durch ihr ganzes Leben gezogen: Immer das Maximum zu geben.

Marlene war insgesamt ganz anders, als sie meist dargestellt wurde. Eigenwillig, aber nicht eisig, vielmehr ganz praktisch besorgt um andere. Natürlich hat sie, wenn es darauf ankam, die Lebedame gespielt, aber das war für sie eine Scheinwelt. Sie wusste ja, dass der Vorhang gefallen war, dass sie nun frei war. Sie kam aber natürlich nicht mehr aus der lebenslangen Performance raus. Marlene war der erste Star, der das beherrschte: sich selbst immer zu inszenieren. Und sie hat damit Erfolg gehabt: Die genialen Posen, der Körpereinsatz, das Übernatürliche - das ist von ihr geblieben. Wie sie es sich gewünscht hat.

Für uns war sie keine Unbekannte. Für Außenstehende mag das eine eigenartige Freundschaft sein, aber sie hatte Tiefe und basierte auf Vertrauen. Wir empfinden große Achtung davor, wie integer Marlene bis zuletzt war. Sie bewahrte sich ihre Persönlichkeit. Keine der Walzen, die in ihrem Leben über sie hinweggegangen sind, hat sie brechen können. So sterben können, das ist ein Traum.

Die Handelnden Personen Marlene Dietrich

Maria Magdalena Dietrich - später fasste sie ihre beiden Vornamen zu Marlene zusammen - wird am 27. Dezember 1901 in Berlin geboren. Ihr Vater ist preußischer Polizeioffizier, er stirbt bereits sieben Jahre später, ihre Mutter kommt aus einer vermögenden Juweliersfamilie. Nach anfänglicher musikalischer Ausbildung (Geige) in Weimar nimmt Marlene ab 1921 Schauspielunterricht in Berlin. 1922 erhält sie erste Rollen auf hauptstädtischen Bühnen, zum Beispiel dem Großen Schauspielhaus von Max Reinhardt. 1923 heiratet sie Rudolf Sieber, 1924 wird die Tochter Maria geboren. Obwohl Sieber und sie später getrennt lebten, hat Marlene Dietrich nie auf eine Scheidung gedrängt. 1929 wird sie für erste Hauptrollen engagiert, der Durchbruch erfolgt 1930 mit dem Blauen Engel, Regie Josef von Sternberg. Ihr "Schöpfer" Sternberg holt sie noch im selben Jahr nach Hollywood, der Film Morocco kommt wenige Monate darauf in die Kinos und ist in den USA ein großer Erfolg. Marlene Dietrich holt ihre Tochter nach Amerika und lebt fortan in Beverly Hills. Sie dreht insgesamt sechs Filme mit Sternberg und trennt sich nach sieben Jahren gemeinsamen Filmschaffens und Liebesbeziehung von ihm. 1939 erhält sie die amerikanische Staatsbürgerschaft. Im Zweiten Weltkrieg unterstützt sie US-Truppen in Nordafrika und Europa als Botschafterin der USO (Organisation für Truppenbetreuung) mit Auftritten und wird von mehreren Ländern, die sich im Widerstand gegen Hitler-Deutschland befinden, mit Orden und anderen Auszeichnungen geehrt. Nach dem Krieg feiert Marlene Triumphe in Shows in Las Vegas und London. Proteste gibt es dagegen 1960 bei ihrer ersten Deutschland-Tournee. Nach ihrem letzten Bühnenauftritt 1975 siedelt die Dietrich nach Paris über, 1978 dreht sie ihren letzten Film (Just a Gigolo). Danach zieht sie sich aus der Öffentlichkeit zurück. Marlene Dietrich stirbt am 6. Mai 1992 in ihrer Pariser Wohnung. Nach einem Trauergottesdienst in der Pariser Kirche La Madeleine werden ihre sterblichen Überreste nach Berlin überführt und auf dem Friedhof im Stadtbezirk Friedenau bestattet.

Gottfried und Renate Helnwein

Gottfried Helnwein, Jahrgang 1948, entstammt einer Wiener Postbeamtenfamilie und kommt, wie er sagt, durch Micky-Maus-Hefte, die sein Vater eines Tages nach Hause brachte, zur Kunst. Er gilt als Meister des Hyperrealismus, sein Malstil vereint "äußerste Emotion und kälteste Sachlichkeit, psychisches Kalkül und technische Perfektion" (Kunstkritiker Peter Sager). Nachdem Helnwein zunächst von der Wiener Akademie der Bildenden Künste aufgenommen wird, sich dort aber lautstark mit den Professoren streitet, kommt es 1969 zum Rausschmiss. Anfang der 80er Jahre zieht er nach Deutschland, lebt bis 1996 auf einem Schloss in der Eifel und seither abgeschieden in Irland, mit einem Atelier in Los Angeles. Er hat die großen Ikonen des 20. Jahrhunderts fotografiert und gemalt, von John F. Kennedy über Mick Jagger und Mohammad Ali bis Michael Jackson. Viele dieser Darstellungen gelangen auf die Titel großer amerikanischer und europäischer Magazine, vom Time-Magazine bis zum Spiegel. Bekannt wird er zuvor durch provokative Bilder: Seine märtyrerhaften Selbstporträts als Schmerzensmann mit verbundenem Kopf und aufgerissenem Gesicht, in der Tradition von Schieles körpersprachlichen Kompositionen, in denen alle Ängste und Qualen des Zeitalters gebündelt sind, begründen seinen Ruhm. Seine Bilder sind begehrte Sammlerobjekte, seine Poster weltweit verbreitet. Nach einem großen Ausstellungserfolg in St. Petersburg im vergangenen Jahr arbeitet er am Großprojekt einer Ausstellung in Peking 2002.

Renate Helnwein stammt aus Heilbronn, ist gelernte Krankenschwester, arbeitete in der Psychiatrie und lebt seit Ende der 70er Jahre mit Gottfried zusammen. Die beiden haben vier Kinder. Sie ist in der Lebens- und Kunstfabrik Helnwein/Helnwein die Organisatorin und Terminplanerin.

Informationen zu Helnwein unter: www.helnwein.com und www.helnwein-info.com