Texte und Essays
DuMont, Buchverlag, Cologne – 30. November 1992
DUMONT
ENDZEITSTIMMUNG - DÜSTERE BILDER IN GOLDENER ZEIT
Das Gewaltthema und das Thema "der als Opfer" setzten sich von Beckmanns früher Arbeit von 1907 bis zum heutigen Tag fort. Bei Bruce Naumann, Marcel Odenbach, Jeff Wall und Gottfried Helnwein wandeln sich zwar die künstlerischen Mittel radikal, nicht aber das Thema selbst.
Bei Chris Burden schlägt die Aggression um in den selbstzugefügten Schmerz. Bei Kiki Smith ist die Frau das Opfer der Erniedrigung und Beleidigung. Überhaupt drückt sich in der Body-Art der frühen neunziger Jahre eine Art toter Körperlichkeit aus. Auch der Leichnam bestätigt die Körperlichkeit des Menschen. Bei Jürgen Brodwolf erinnern die Körper an Mumien, bei Smith an ausgelaugte Objekte, bei Sindy Sherman an sexuell mutierte, zerstückelte Schaufensterpuppen, bei Steven Hudson an aus dem Paradies Verstoßene. Der menschliche Körper wird in der Kunst unseres Fin de siècle als unterworfenes und gedemütigtes Objekt gesehen.
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GOTTFRIED HELNWEIN, 1948 in Wien geboren, lebt heute in Deutschland. Frühere Aktionen der siebziger Jahre, bei denen er, Mitleid heischend, als Bandagierter auftrat, schienen dem Wiener Aktionismus nahezustehen. Helnweins Darstellung des menschlichen Leids gibt sich jedoch viel zu pointiert, ja viel zu sozialkritisch, als das man dem Künstler den Wiener Aktionismus zuordnen dürfte. Die für diesen Kreis typische Selbstdarstellung setzt Helnwein ein, um beinahe politische Aussagen zu machen, nicht um im Orgiastischen, im Narzißmus oder sogar im Mystizismus zu schwelgen.
Helnweins faszinierendes Oeuvre umfaßt absolute Gegensätze. Helnwein ist ein Künstler der kompromißlosen Aussagen: Das Triviale, etwa der Disneykultur, wechselt ab mit Untergangsvisionen der Seele, die Göttlichkeit des Kindes kontrastiert mit Horrorbildern von Kinderschändung. Sein Grundthema aber bleibt die Gewalt, das physische und seelische Leid, das ein Mensch dem anderen zufügt. Der Künstler variiert dieses Thema innerhalb zweier Komplexe, die sich über viele Jahre hin durch sein Werk ziehen.
In einem ersten Komplex setzt Helnwein sich mit sich selbst als Künstler auseinander. Der bandagierte Mensch, mit chirurgischen Instrumenten gefoltert, schreit seine Qualen hinaus. Er leidet unendlich. Er leidet sogar so sehr, daß sein Schrei Glas zum zerspringen bringt, wie im bekannten fotorealistischen Gemälde Blackout von 1982, das zum "Markenzeichen" Helnweins wurde. Helnwein zeichnet das Künstlerportrait eines auf Leiden reduzierten Menschen. Damit steht er in der spätmittelalterlichen Tradition des Schmerzmannes. Helnwein geht einen Schritt weiter als Nauman, dessen Video Clown-Folter den Künstler als lächelnden Narren der Welt portraitiert. Es geht Helnwein nicht nur um sich selbst als Außenseiter der Gesellschaft. Der Künstler als Märtyrer, so heißt es bei Peter Gorsen, erhalte eine zentrale Bedeutung in Helnweins Werk, weil es zur Projektionsfläche des Weltgeschehens wurde. Zum autobiographischen Gehalt seines Selbstportraits sagte der Künstler in einem Interview: "Damit meine ich überhaupt nicht mich, sondern ich nehme mich, weil ich jederzeit als Modell verfügbar bin: Was ich meine, ist einfach einen 'Menschen'." Von diesem handeln die Selbstbildnisse - vom leidenden, verletzten, unterworfenen, gefolterten Menschen, dem nur noch der verzweifelte Schrei bleibt. Über seine Seele verfügt er nicht mehr.
In einem zweiten Komplex tritt Helnwein seit den frühen siebziger Jahren mit Vehemenz für die Rechte des Kindes ein. Das Kind ist Helnweins Märtyrerfigur. Wie der Erwachsene wird auch das Kind der Gnadenlosigkeit der Mitmenschen unterworfen. Chirurgische Instrumente fesseln es, Narben ziehen sich über sein Gesicht - ein Motiv, das Helnwein seit den siebziger Jahren immer wieder aufgriff. Der Unmensch - der in den Kinderfotos und Kinderbildnissen immer unsichtbar bleibt - nimmt früh Besitz von der Kinderseele, macht sie gefügig und bricht sie. Der abwesende Gewalttäter verkündet seine Präsenz, in dem der Betrachter das Ergebnis der Unmenschlichkeit sieht. Keine helfende Hand, ebenso wenig für die Erwachsenen, regt sich. Kind und Erwachsener sind Metaphern für den Menschen, dem niemand beisteht. Einzig der Funke der Transzendenz und der Reinheit widersteht der Gewalt. Man findet ihn bei den Kindern, deren Kopf ein Strahlenkreuz umgibt wie einen Heiligenschein. Um so schwerer wiegen die Verbrechen, wenn sie an Wesen, die sich nicht wehren können, verübt werden: der Künstler als postmoderner Christus, das Kind in seiner ahnungslosen Göttlichkeit. Mit diesen beiden, in sich tausendfach abgewandelten Komplexen vermittelt der Künstler eine Botschaft, wie sie eindringlicher nicht sein könnte.
Eine ganz andere, ebenso erschütternde Kraft spricht aus vielen Fotoportraits Helnweins, meist von Persönlichkeiten im kulturellen Sektor. Gerade die Idole der Massen und der Medien tragen in sich die Zeichen des Verfalls. Warhols ungesunde, pickelübersäte Haut scheint, wächsern und beinahe durchsichtig, den Tod zu antizipieren. Lech Walesas feistes Gesicht strotzt vor Selbstzufriedenheit. Arno Breker lugt - mit Recht - mißtrauisch in die Kameralinse. Das Gesicht des Schriftstellers und notorischen Säufers Charles Bukowski ist nichts anderes als ein Schlachtfeld. Helnwein läßt in seinen Fotoportraits Prominenter eine mißlungene Parade der Eitelkeiten vorbeidefilieren; nicht um sensationalistisch zu entlarven, sondern um Erkenntnis und Selbsterkenntnis zu ermöglichen. In den Worten von William S. Burroughs: Er zeigt dem Betrachter "was er weiß, von dem er aber nicht weiß, daß er es weiß. Helnwein ist ein Meister dieses überraschten Erkennens".
In der Serie der Fotoportraits läßt sich noch am ehesten eine positive Botschaft des Künstlers erahnen: mögliche Selbsterkenntnis als Weg zur inneren Wandlung. Daß er sie für realistisch hält, möchte man jedoch angesichts von Helnweins Gesamtwerk kaum annehmen. Ein an die Monstren Christa Nähers erinnerndes Wesen faßt Helnweins Menschenbild zusammen. Das Gesicht im Gemälde Feuermensch verströmt Bösartigkeit, Tod und Verderben. Man könnte dieses Wesen als Verkörperung der latenten Aggression des Menschen, seiner unberechenbaren, tödlichen Energie interpretieren. Der Feuermensch lauert auf sein Opfer, er duckt sich zum Sprung. Endlich bekommen wir den Triebtäter zu Gesicht.
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Gregory Fuller
Kunst und Kultur
Gregory Fuller, 1948 in Chicago geboren, studierte in Tübingen und Marburg Philosophie, Kunstwissenschaft und Amerikanistik; Promotion 1975. Veröffentlichung zahlreicher wissenschaftlicher Arbeiten, vor allem auf dem Gebiet der Ästhetik. Zum Thema Endzeit publizierte er den literarischen Essay "Das Ende. Von der heiteren Hoffnungslosigkeit im Angesicht der ökologischen Katastrophe", Zürich 1993. Bei Dumont erschien von ihm: "Kitsch-Art. Wie Kitsch zur Kunst wird" (DuMont-Taschenbücher, Band 287). Fuller arbeitet als Verlagsdirektor in Stuttgart.
(Auszug)